Werner Fritsch erzählt

WER IST DER, DER ER IST…

„Wer ist der, der der ist, der er ist. Wer der, der nie vergisst, dass er nie mehr der ist, der in den Fluß geschaut, aber immer der, der in den Fluß schaut und sich vergisst und den Fluß vergisst, weil er der Fluß ist, der mündet und entspringt im Strom unseres Bewusstseins, umbrandet vom Meer, was mehr als nichts ist.“ (Die Alchemie der Utopie: S. 8)

STEPPENWOLF UND SOFT MACHINE

„Das erste Buch, das ich mir, inspiriert durch die Gruppe Soft Machine, kaufte, war das Buch Soft Machine von William S. Burroughs, das zweite Buch, das ich mir, inspiriert durch die Gruppe Steppenwolf, kaufte, war das Buch Steppenwolf von Hermann Hesse. Außerdem gab es zwei deutsche Rockgruppen, die Novalis und Hölderlin hießen.“ (Die Alchemie der Utopie: S. 40)

DER PFLUG DER SPRACHE

„Mehrere Felder haben, dass eines auch mal brach liegen kann, auf den anderen kann etwas wachsen, das zu verschiedenen Zeiten reift. Nicht immer kann man ernten. Manchmal genügt es, dem Wachsen zuzuschauen. Manchmal muß man Unkraut jäten. Immer irgendwie gießen.
Wichtig ist das Immer-Wieder-Umgraben des Feldes… Das Zutagefördern des Untergründigen… Das Herz umgraben, die Mördergrube, die Früchte der Humanitas hervorzubringen. Das geht nur durch Einschnitte, harte Fügungen, Steine, aus denen Funken fliegen. Bewusstsein und Unterbewusstsein, Natur und Geschichte umgegraben mit dem Pflug der Sprache, die Spuren schreibt, schwarzkrumige Zeilen im Feld Leben.“ (Die Alchemie der Utopie: S.48)

TONBANDREALISMUS UND DIE METRIK DES MÜNDLICHEN

„Nach meinem Text Steinbruch, nach den syntaktischen Strukturen des Schriftdeutschen interessierte mich, ganz dialektisch, das Gegenteil: Über Militär nicht mehr in meiner Sprache zu schreiben, sondern nur mit der Sprache, die dort gesprochen wird. Dergestalt entstand Fleischwolf in der Fassung von 1985. Cherubim ist in gewisser Weise die Synthese aus biblischem beziehungsweise liturgischem Schrift-Deutsch und mündlicher Rede.“ (Die Alchemie der Utopie: S.51)

DIE RADIKALITÄT WIRD HERVORGERUFEN DURCH DEN NIE GANZ ABGERISSENEN ADRIANEFADEN DES JETZT IM LABYRINTH

Nicht nur habe ich nicht- wie die Avantgarde – immer nur nach vorne gewollt, sondern, wenn ich nach vorne gegangen bin, bin ich zugleich zurück gegangen.
Ich gehe zugleich immer wieder zurück zu den Wurzeln, zu diesem Sprechen mit Gott auf dem Stein. Ans Ufer der Wondreb, zurück zu den Wurzeln, auf dass die Krone nur ja weit in den Himmel wachsen kann…
(…)„Die Radikalität wird hervorgerufen durch den nie ganz abgerissenen Ariadnefaden des Jetzt im Labyrinth, der dieses Leben, das die Winde gezeichnet haben und die Wut und das Leid auch, alle heilige Zeit mit Sinn erfüllt“ (Die Alchemie der Utopie: S.46)

UND ES IST GESCHICHTE, DASS ALLE DIEJENIGEN POLITISCHEN SYSTEME, DIE SICH DES UNBESTECHLICHEN SPIEGEL DER KUNST – INDEM SIE IHR DARIN ERSCHEINENDES BILD NUR ALS ZURECT POLIERTES AKZEPTIEREN KONNTEN ODER WOLLTEN – , ENTLEDIGT HABEN, SIES DER FASCHISMUS, SEIS DER KOMMUNISMUS, UND MAN MUSS SAGEN MIR RECHT RÄUDIG ZUGRUNDEGEGANGEN SIND…

„Angehörige einer unsichtbaren Generation, die wir den Taten der Toten wie Außerirdische gegenüberstehen, im Bewusstsein, dass unsere Kinder und Enkel uns genauso, wie wir unsere Eltern und Großeltern gefragt haben, fragen werden: WIE KONNTET IHR DAS ZULASSEN? Euch hätte es doch, im Gegensatz zu den Altvorderen, den Kopf keineswegs gekostet, angesichts des ökologischen Holocausts, zuwenigst das Wort zu erheben, das schöpferische.“ (Die Alchemie der Utopie: S.68)

FREILICH FRAGTE ICH MICH, WARUM MAN NACH AUSCHWITZ NICHT NUR MEHR EINES NOCH KANN: GEDICHTE SCHREIBEN?

„Und warum man, ein Beispiel unter tausenden, nicht nicht mehr Zug fahren kann, hochverehrter Herr Adorno? Sind auf den Geleisen der Deutschen Reichsbahn nicht Millionen Leute in den Tod transportiert worden?“ (Die Alchemie der Utopie: S.54)

DIE LÜCKEN DER LOGIK…

„Um die Geschichte unseres Denkens zu vertiefen, habe ich Philosophie, sehr viel Sprachphilosophie, studiert, Logik, auch, heiter ob seiner Etymologien, Heidegger, wie Nietzsche, den Dionysos des Deutschen, auch, jedoch nicht nur via Foucault, via Deleuze, via Derrida, zu jener Zeit, als Der symbolische Tausch und der Tod Baudrillards bereits durch die Seminare geisterte. (…) Waren die Volten der Dialektik im Denken von Hegel, Marx, Adorno ein Weg, den Geleisen unserer Grammatik und Logik, auch dem circulus vituosus Geschichte, zu entkommen?“ (Die Alchemie der Utopie: S 54)

YOU SOUND LIKE YOURSELF…

„In den letzten Jahren erschien mir eine Erweiterung der Schriftsyntax über die Strukturen des Gesprochenen hinaus möglich als die kühne Kombinatorik des Hohen mit dem Niederen, gleichsam die Alchemie der Utopie, dass alle Schichten unserer Gesellschaft wieder miteinander ins Gespräch kommen: Das Spektrum dieses alchemistischen Amalgams, dieses Kosmos der Kombinatorik reicht von der Zote bis zur Mystik, vom Kalauer bis zur Lyrik.” (Die Alchemie der Utopie: S.54)

STRATEGIEN POLYMEDIALEN ERZÄHLENS…

„So wie das Wasser der Wondreb im Begriff, den Aggregatzustand zu ändern, seine Substanz nicht verliert, so besteht für mich die Alchemie der Utopie darin, durch das Ineinander der Genres, ihr Aufspalten in Stoff-Atome, zu neuen Dimensionen der Dramaturgie vorzustoßen. (…) Es geht mir im Gegenteil um die Einmaligkeit, die Jeweiligkeit eines jeden Mediums: die Gewinne und Verluste der Übersetzungen.“ (Die Alchemie der Utopie: S.63)

PORTALFIGUREN POLYMEDIALEN ERZÄHLENS…

„Als Portalfiguren polymedialen Erzählens sind Beckett, der in den Bereichen Lyrik, Prosa, Hörspiele, Theater und Film gearbeitet hat, oder Pier Paolo Pasolini, der einige seiner Stoffe in mehreren Medien realisiert, z.B. seinen Roman Teorema oder sein Theaterstück Porcile selbst verfilmt hat, zu sehen. “
„Als weitere Grenzgänger zwischen Genres interessierten mich: Autoren wie Alexander Kluge, Herbert Achternbusch, Fernando Arrabal, Alexander Jodorowsky, Alain Robbe-Grillet, Marguerite Duras, die Filme gemacht haben oder Autoren wie Robert Zimmermann alias Bob Dylan, Leonard Cohen, Nick Cave, Lou Reed, Allen Ginsberg, die Musik gemacht haben… “
„Auch Filmemacher wie Derek Jarman oder Jean-Luc Godard fielen in den Fokus dieser Fragestellung: die Tatsache, daß die Tonspur bei Godard und Jarman ein eigenes Hörspiel ist und daß die Texte in Godard- und Jarman-Filmen Zitatgespinste aus der Literaturgeschichte sind…“ (Die Alchemie der Utopie: S.64)

DAS BÖSE DER BANALITÄT…

„Es gibt Hannah Arendts Diktum von der Banalität des Bösen. Ich spreche aber jetzt vom Bösen der Banalität. Bislang ist das Banale, das gesendet wird, sieht man mal von Hunderten von Morden und Brutalitäten ab, nicht das Böse, aber im schlimmsten Fall erfüllt es eine Statthalter-Funktion, und das Böse der Banalität ist die Abstumpfung und Idiotisierung und Infantilisierung des geistigen Klimas.“ (Die Alchemie der Utopie: S.83)

DARF MAN ÜBER HITLER LACHEN?

„Ich sage: Man hätte schon seit seinem Auftreten über Hitler lachen müssen!
Schauen Sie ihn sich doch genau an! Spätestens heute muss man, da die wissenschaftlichen Erklärungen nicht befriedigen, irgendwie dieser Gestalt den Nimbus nehmen. Dämonisierte man Hitler nur, wäre es noch viel gefährlicher.“ (Die Alchemie der Utopie: S.84)

TO SOUND LIKE YOURSELF…

„Je allgemeiner ein Stoff ist, umso wichtiger ist es, ihn sich stilistisch so einzuverleiben und anzuverwandeln, dass in jeder Zeile das Kriterium erfüllt ist: To sound like yourself…“ (Die Alchemie der Utopie: S.108)

NICO. SPHINX AUS EIS (…) EINE BIOGRAPHIE, ANHAND DERER MAN DER WELT ETWAS ÜBER DEUTSCHLAND ERZÄHLEN KANN…

„Während ich durchs Prisma GRÜNDGENS und die Konstellation FAUST-MEPHISTO vier verschiedene Deutschland erzählen konnte – Faust als Fronttheater im ersten Weltkrieg, Faust auf Bühnen in der Weimarer Republik, in der Nazi- und der Nachkriegszeit – kann ich mit NICO, deren Kindheit in die Nazi-, deren Adoleszenz in die Nachkriegszeit fällt, aufzeigen, wie auf einmal „Europa“, wie auf einmal „Welt“ auf sie – wie auf uns Nachkriegsdeutsche – eingeströmt ist: Nico modelt bei Coco Chanel in Paris, spielt bei Federico Fellini in Dolce Vita, hat ein Kind mit Alain Delon, kommt in Warhols Factory und in Filmen wie Chelsea Girls oder Imitation of Christ vor seine Kamera, wird Sängerin der legendären Velvet Underground, trifft in der Folge oben genannte Rockgrößen…Und irgendwann macht sie ihr ureigenes Ding, irgendwann wird sie im Sinne des lateinischen Wortes radix radikal: Sie besinnt sich ihrer Seele, ihres Selbst und ihrer Wurzeln… “ (Die Alchemie der Utopie: S.75)

DER TOD SCHNEIDET DEN FILM DES LEBENS…

„Augen als Kugeln in der Zentrifuge der rings um die Welt kreisenden Vorstellung. In der Ferne das Inferno: der letzte Film. Der Tod schneidet den Film des Lebens. Und klebt die entscheidenden Bildfolgen aneinander. Sicher sind die Sequenzen, die ich in diesem Zustand sehen werde, anders belichtet. Ob auch die Perspektiven, Einstellungsgrößen, Farben, Geschwindigkeiten, Objektive andere sind?“ (Die Alchemie der Utopie: S.125)

DAS KINO KOPIERT DIE WIRKLICHKEIT NICHT WIE DIE MALEREI…

„Die Wirklichkeit ist für Pasolini Kino in natura: die geschriebene Sprache der Wirklichkeit. In Pasolinis Kino der Poesie als geschriebener Sprache verliert die Schrift etwas von ihrer abstrakten, zeichenhaften Natur. Die Schrift wird wieder Hieroglyphe: das Zeichen gewinnt als Bildzeichen, aufgrund der physischen Gewalt der Reproduktion seine archaische Kraft der eidetischen Suggestion zurück.“ (Die Alchemie der Utopie: S.152)

DIE FORM DES FILMGEDICHTS ERLAUBT MIR VERTIKAL ZU ERZÄHLEN!

„Der Film setzt da an, wo sie diese wahnsinnigen Energien, die in ihr stecken, nicht mehr in Sprache kanalisieren kann. Die Bilder im Film sind, was sie nicht mehr schreiben kann.“ (Die Alchemie der Utopie: S.158)

DOCH LIEBER EIN ARMER GOTT, ALS EIN REICHER MINISTRANT.

„Was nützt es dir, wenn dein Name gehört wird in aller Welt, aber du erkennst deine Stimme nicht mehr. Die Mundhöhle im Augenblick des Sprechens Erz geworden, deine Zunge Klöppel in der Glocke der Lüge.
Die herrschende Ästhetik ist eine Autobahn: konstruiert, um von dem Terrain unterhalb der Schädeldecke, das zu uns führt, abzulenken.“ (Hieroglyphen des Jetzt, S. 229)

MEINE SPRACHE IST ERFÜLLT VON DER UTOPIE, DASS ALLE SCHICHTEN UNSERER GESELLSCHAFT WIEDER MITEINANDER INS GESPRÄCH KOMMEN…

„Ihr Spektrum reicht von der Zote bis zur Mystik, vom Kalauer bis zur Lyrik.
Die Strukturen des Schriftdeutsch sind doch, warum nur merkt das niemand, tot: Die variantenreiche Struktur der gesprochenen Sprache, die durch den Terror der Television immer mehr ausstirbt, ist dagegen ein noch immer nicht ausgeschöpftes Reservoir der Spracherneuerung.“ (Hieroglyphen des Jetzt, S. 230)